Als Ort, der seit Jahren durch eine hybride Finanzierung aus kommerzieller Vermietung unserer Räumlichkeiten und Teilförderung durch den Berliner Senat existiert, wissen wir im Radialsystem, wie fragil die Existenz von freien Kulturorten in Berlin ist. Diese hybride Struktur wird oft als Modell für Resilienz gepriesen. Doch gerade in ökonomisch herausfordernden Zeiten zeigt sich, dass sie auch eine doppelte Verwundbarkeit mit sich bringt: Auf der einen Seite ist der kommerzielle Betrieb wirtschaftlichen Schwankungen direkt ausgesetzt. Auf der anderen Seite wäre unser Bestehen ohne öffentliche Förderung unserer Infrastruktur und ohne das fragile Ökosystem aus freischaffenden Künstler*innen, Netzwerken und institutionellen Partnerschaften unmöglich.
Gemeinsam mit ihnen öffnen wir Räume, die Begegnung und Vielstimmigkeit ermöglichen. Räume, die für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbar sind. Ebendiese Räume werden derzeit massiv bedroht.
Eine politische Logik der reinen Wirtschaftlichkeit greift um sich und widerspricht fundamental der Aufgabe von Kunst und Kultur. Denn diese geht weit über ökonomische Aspekte hinaus. Kunst und Kultur sind nicht nur Standortfaktor, sondern vor allem Orte der gemeinsamen Erfahrung und der Teilhabe – Orte, die gerade in Krisenzeiten Halt, Inspiration und kritische Perspektiven ermöglichen. Sie auf ihre Rentabilität zu reduzieren, bedeutet, ihre Funktion als gesellschaftliches Korrektiv zu verneinen.
Gerade die unmittelbare Erfahrung der letzten Jahre hat bewiesen, dass Kunst und Kultur in herausfordernden Zeiten unverzichtbar sind und deshalb gestärkt werden müssen. Sie aber einer marktwirtschaftlichen Logik zu unterwerfen, verkennt nicht nur ihre Funktion, sondern widerspricht auch ihrem Wesen. Denn ihre Relevanz begründet sich in ihrem kritischen Potenzial und in ihrer Fähigkeit, unbekannte Realitäten und Zukünfte zu imaginieren, die uns im besten Sinne verunsichern und in ein gerechteres Miteinander führen. Kunst und Kultur erschüttern das Gewohnte – das ist selten rentabel, aber es lohnt sich!
Freie Kunst und Kultur arbeiten in Berlin seit jeher prekär und sind zugleich essenziell, um gerade in Zeiten von Unsicherheit, Spaltung und Marginalisierung Räume für Austausch, Widerspruch und Solidarität zu schaffen. Das betrifft insbesondere jetzt akut bedrohte wichtige Orte und Initiativen, die queerfeministische Perspektiven, Erfahrungen von migrantisierten und anderweitig von Diskriminierung betroffenen Menschen und Zukunftsentwürfe jenseits dominanter Narrative hörbar machen.
Die strukturelle Zerstörung ebendieser Räume und Netzwerke, wie wir sie derzeit in Berlin erleben, bereitet den Weg für gesellschaftliche Abgründe. Sie bedeutet, bestehende und voranschreitende gesellschaftliche Ungleichheiten weiter zu vertiefen. Es ist umso katastrophaler, dass diese Kürzungen von politischen Entscheidungsträger*innen vorangetrieben werden, die sich eigentlich als Fürsprecher*innen der Kultur und des gesellschaftlichen Zusammenhalts verstehen sollten.
Wir stehen in der Verantwortung, diese Räume zu verteidigen – als Akteur*innen innerhalb der Institutionen, als Zivilgesellschaft und als gewählte Vertreter*innen in der Kulturpolitik. Denn ohne diese Räume drohen uns finstere Zeiten. Kunst und Kultur sind weder rentabel noch verschwenderisch – sie sind notwendig. Sie bilden das Fundament einer demokratischen Gesellschaft, die offen, widerstandsfähig und zukunftsfähig ist.
Eröffnungsansprache von Matthias Mohr (Künstlerischer Leiter und Co-Geschäftsführer Radialsystem) im Rahmen des Outernational Festivals "Songs of Radical Kindness" am 01. Dezember 2024 im Radialsystem.
Wir verweisen und bitten um Unterzeichnung der Petition des Deutschen Bühnenvereins und bedanken uns für diese Unterstützung.
#BerlinIstKultur