Kuratorische Praxis im Dialog
Wer entwickelt eigentlich Festivalprogramme, Reihenformate oder das künstlerische Profil eines Hauses? Und wie gestaltet sich die Erarbeitung solcher Konzepte? Neben der Künstlerischen Leitung sind es freie Kurator*innen, die Künstler*innen und ihre Arbeiten in Kontakt bringen, ungewöhnliche Perspektiven miteinander verknüpfen und nach neuen Blickwinkeln und Formen für die Präsentation künstlerischen Schaffens in der Öffentlichkeit suchen.
Mit „Encounters“ startet das Radialsystem ein dialogisches Format für die Auseinandersetzung mit kuratorischer Praxis: „Encounters“ stellt der Erarbeitung, Vertiefung und Weiterentwicklung kuratorischer Konzepte Raum und Zeit zur Verfügung – auch jenseits der Realisierung konkreter Projekte. Als Gastkurator*innen sind Sandhya Daemgen, Raphael Hillebrand und Martha Hincapié Charry eingeladen, drei Künstler*innen, die neben ihrer Arbeit für die Bühne als freie Kurator*innen tätig sind und bereits am Radialsystem gearbeitet haben. Der Recherchefokus liegt dabei auf der Wechselwirkung von Choreografie und der Praxis des Kuratierens – ausgehend von der Idee, dass das Konzept von Choreografie nicht auf den Tanz beschränkt ist, sondern das Verhältnis von Bewegung von Körpern in Zeit und Raum beschreibt.
In einem Zeitraum beginnend im Januar 2021 bis Ende 2022 haben Sandhya Daemgen, Raphael Hillebrand und Martha Hincapié Charry die Möglichkeit, ihre Arbeit im Dialog mit der Künstlerischen Leitung des Radialsystems und internationalen Partner*innen aus anderen Wissensbereichen und künstlerischen Disziplinen weiterzuentwickeln und die eigene Perspektive im transdisziplinären Austausch zu reflektieren. Gleichzeitig werfen sie einen kritischen Blick auf die künstlerische Arbeit des Radialsystems. Die Recherchearbeit der drei Gastkurator*innen kann im Rahmen von öffentlichen Gesprächen, Workshops oder anderen Formaten in den realen und virtuellen Räumen des Radialsystems präsentiert werden.
„Encounters“ schließt eine Förderungslücke für die kuratorische Erarbeitung choreographischer Konzepte. Da (vor-)konzeptionelles und projektunabhängiges Arbeiten in der Regel selten finanziert wird, liegt der Schwerpunkt des Projektes nicht auf der Realisierung eines bestehenden künstlerischen Vorhabens. Ermöglicht wird „Encounters“ durch das bundesweit ausgeschriebene Programm „Tanzpakt Reconnect“, das die langfristige Stärkung der künstlerischen Bedingungen und Strukturen für Tanzschaffende während der Corona-Pandemie zum Ziel hat.
„Encounters“ ist ein Projekt des Radialsystems und wird unterstützt durch DIEHL+RITTER/TANZPAKT RECONNECT, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen der Initiative NEUSTART KULTUR. Hilfsprogramm Tanz.
Sandhya Daemgen
Die in Berlin lebende Künstlerin Sandhya Daemgen ist Choreografin, Musikerin, Tänzerin und Dozentin und entwickelt interdisziplinäre Performances zwischen Körper, Stimme und Sound. Als Sängerin, Tänzerin und/oder Violinistin arbeitete sie mit international renommierten Künstler*innen wie Tino Sehgal, Arcade Fire, Ari Benjamin Meyers, The Residents und Heiner Goebbels und ist dabei weltweit aufgetreten. Am Radialsystem entwickelte sie bereits vor und während der Corona-Pandemie das (Online)Format „What’s That Noise?“, das sich der Musik und der Deep Listening-Technik von Pauline Olivers widmete.
Raphael Hillebrand
Als Sohn deutscher und westafrikanischer Eltern in Hongkong geboren, in Berlin aufgewachsen und durch Hip Hop ausgebildet, nutzt Raphael Hillebrand seinen vielfältigen kulturellen Hintergrund, um seine Vision eines Hip Hop-Tanztheaters zu verwirklichen. Durch seine umfangreiche internationale Arbeit kultivierte er Verständnis und Instinkt für soziale Gerechtigkeit und Sensibilität für die Komplexität kultureller Identität. Er leitet regelmäßig internationale Kultur- und Kooperationsprogramme und kreiert Tanztheaterproduktionen mit Tänzer*innen vor Ort. Als Ideengeber und Gründungsmitglied der weltweit ersten Hip-Hop Partei „Die Urbane“ setzt er sich u.a. für Dekolonialisierung sowie Empowerment und kulturelle Vielfalt ein. Mit „Dialogic Movement“, einem in dieser Form in Berlin einzigartigem Forum für zeitgenössische urbane Kultur, war Raphael Hillebrand 2014 im Rahmen mehrerer Editionen im Radialsystem zu Gast. Im Oktober 2020 wurde er mit dem Deutschen Tanzpreises für „herausragende künstlerische Entwicklungen im Tanz“ geehrt.
Martha Hincapié Charry
Martha Hincapié Charry ist Kolumbianerin mit indigener Herkunft. Als BIPOC-Künstlerin, Choreographin, Tänzerin und Kuratorin lebt und arbeitet sie in Berlin. Sie studierte Tanz in ihrem Heimatland und schloss ihr Tanztheater- und Solotanzstudium an der Folkwang-Hochschule Essen unter der Leitung von Pina Bausch ab. 2019 war sie Stipendiatin des Pina Bausch Fellowships für Tanz und Choreografie. Seit 2011 ist sie künstlerische Leiterin von „Plataforma/SurReal Berlin“. Das Festival fand 2019 im Radialsystem, im Verlin und im Dock 11 statt. In ihrer kuratorischen Arbeit reflektiert sie Entkolonialisierungsprozesse und Überlebensformen, die Künstler*innen bei ihrer Auswanderung nach Berlin oder als Teil lokaler Utopien entwickeln konnten. „Plataforma Berlin“ eröffnet seit Jahren – meist ungefördert – einen Dialograum zwischen den Kontinenten, in dem durch eine transdisziplinäre Reflexion des menschlichen Körpers die Themen Klimawandel, (De-)Kolonialismus und die Beziehung zwischen Kunst, Mensch und Natur eine Plattform finden.