Sind Körpertechniken selbst ein Teil dessen, was wir Kultur nennen, oder entsteht Kultur erst durch ihre Anwendung? Wie können wir durch gemeinsame Körperpraxen Wissen entstehen lassen? Und was hat Wissensproduktion mit Macht zu tun? „Encounters – Embodied Practices“ ist eine neue Reihe, die das Radialsystem gemeinsam mit den assoziierten Kurator*innen Raphael Moussa Hillebrand, Sandhya Daemgen und Martha Hincapié Charry entwickelt. Im Zentrum der „Embodied Practices“ stehen Formen des Bewahrens und Weitergebens von Körperpraktiken aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Es geht darum, eine Form der Wissensproduktion ins Zentrum zu stellen, die mit dem Körper und der Erfahrung beginnt. „Embodied Practices“ sind eine erlebte Form der Weitergabe von Wissen.
Workshops Encounters – Embodied Practices
Im September 2022 lud der Tänzer, Choreograf und Aktivist Raphael Moussa Hillebrand, dessen künstlerisches Arbeiten in der B-Boy-Szene verwurzelt ist und der 2020 mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet wurde, wichtige Vertreter*innen urbaner Tanzstile dazu ein, gemeinsam mit den Teilnehmer*innen in die Welt von House Dance, Breakin‘ und Krump einzutauchen. Im Oktober gestaltet die Tänzerin, Performerin und Videokünstlerin Rocío Marano einen Workshop zum argentinischen Malambo – westliche Zuschreibungen stellt sie in Frage und verknüpft die Entstehung des Tanzes mit der kolonialen und gewaltvollen Geschichte Argentiniens. Zur Auseinandersetzung mit der menschlichen Stimme und kulturell geprägter Gesangstechniken laden Mitte November die Sänger*innen Peny Chan und Rully Shabara ein. Ebenfalls im November 2022 beschäftigen sich die Künstler*innen Martha Hincapié Charry und Thiago Granato mit Körperpraxen als Teil lokaler Utopien und Überlebensstrategien in indigenen Gemeinschaften ihrer Herkunftsländer.
„Encounters“ ist ein Projekt des Radialsystems und wird unterstützt durch Bureau Ritter / TANZPAKT RECONNECT, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen der Initiative NEUSTART KULTUR. Hilfsprogramm Tanz.
#7 Voice-Session: Im Rahmen von „Nocturnes for a Society” von Myriam Van Imschoot & Lucas van Haesbroeck
Im Rahmen der immersiven Performance Nocturnes for a Society von Myriam Van Imschoot und Lucas van Haesbroeck, die am 26. und 27. Juli im Radialsystem als Deutschlandpremiere zu erleben ist, ist das Publikum zu zwei „Embodied Practices“-Formaten eingeladen, deren Fokus auf der Herstellung von Filz als gemeinsame Praxis und der Stimme als Medium der Gemeinschaftsbildung liegt. Mit den beiden Austauschformaten führt das Radialsystem die Reihe der „Embodied Practices“ fort, in deren Rahmen Formen des Bewahrens und Weitergebens von Körperpraktiken aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen miteinander erprobt werden.
Ein besonderer Auftakt zu „Nocturnes for a Society“ für alle Stimm- und Klang-Neugierigen: In dieser Voice-Session lädt die Klangkünstlerin Myriam Van Imschoot dazu ein, die greifbaren klanglichen und auditiven Verbindungen sowohl untereinander als auch mit der Akustik und den Räumen im Radialsystem zu erleben. Die Session bietet die besondere Gelegenheit, in einer entspannten und offenen Umgebung die Kraft der eigenen Stimme in einer Gruppe zu erleben. Sie umfasst ein Warm-up und mehrere angeleitete Gruppenimprovisationen.
#6 Felt-Session: Im Rahmen von „Nocturnes for a Society” von Myriam Van Imschoot & Lucas van Haesbroeck
Im Rahmen der immersiven Performance Nocturnes for a Society von Myriam Van Imschoot und Lucas van Haesbroeck, die am 26. und 27. Juli im Radialsystem als Deutschlandpremiere zu erleben ist, ist das Publikum zu zwei „Embodied Practices“-Formaten eingeladen, deren Fokus auf der Herstellung von Filz als gemeinsame Praxis und der Stimme als Medium der Gemeinschaftsbildung liegt. Mit den beiden Austauschformaten führt das Radialsystem die Reihe der „Embodied Practices“ fort, in deren Rahmen Formen des Bewahrens und Weitergebens von Körperpraktiken aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen miteinander erprobt werden.
Die Herstellung von Filz ist ein uralter Prozess. Der leichte Zugang zu der Technik und die Tatsache, dass dieses „Werk vieler Hände“ Verbindungen schafft, machen das Filzen zu einem besonderen Moment der Begegnung: In der offenen Werkatmosphäre können Gespräche entstehen, Wissen und Techniken im Zusammenhang mit Wolle und dem Filzprozess ausgetauscht und angewandt werden. Die Teilnehmer*innen stellen Filzdecken her, jede einzigartig und besonders mit eigenen Motiven und Mustern. Die Filzdecken sind dann integraler Bestandteil der Performance „Nocturnes for a Society“ von Myriam Van Imschoot und Lucas Van Haesbroeck.
#5 foRest – slow medicine: Praxisformat mit Martha Hincapié Charry
Langsamkeit als Heilungsprozess: Den Körper mit dem Sonnenuntergang deaktivieren, die Last des Tages hinter sich lassen – „foRest – slow medicine“ öffnet einen Raum der Entschleunigung und orientiert sich dabei an der Geschwindigkeit der Erde. In einem ganzheitlichen Bewusstsein für die enge Beziehung zwischen Mensch und Natur sind menschliche Ruhe und Muße wichtige Faktoren, um den Systemen auf der Welt Zeit zu geben, sich zu regenerieren: „foRest – slow medicine“ lädt dazu ein, sich mit dem Zusammenhang zwischen der aktuellen Krise unserer natürlichen Ressourcen und unserer Beziehung zum Innehalten auseinanderzusetzen.
Im fünften Praxis- und Dialogformat der neuen Reihe „Encounters – Embodied Practices“ im Radialsystem lädt die BIPoC (Black, Indigenous, People of Color)-Künstlerin, Choreografin, Performerin und Kuratorin Martha Hincapié Charry mit „foRest – slow medicine“ in einen abendlichen Raum der Verlangsamung und Regeneration.
Ruhe ist ein Privileg. Der Mangel an Ruhe – sowohl zwischen uns Menschen wie auch der uns umgebenden Umwelt – zeigt sich deutlich im wachsenden klimatischen Chaos. Langsame Rhythmen hingegen schaffen Distanz zu Konsum, Produktion, Hektik und fortlaufenden Inputs – quasi als Kontrapunkt zum vorherrschenden kapitalistischen Paradigma. Der Ruhe Priorität einzuräumen, kann hier als widerständiger Akt der Heilung verstanden werden.
Gleichzeitig ist Ruhe ein Vorrecht, das vor allem weiße Körper genießen. Koloniale Wunden, Zerstörung der Natur, erzwungene Migration und kapitalistische Ermüdung haben größere Auswirkungen auf Menschen aus dem BIPoC-Kontext, für die das Ausruhen beängstigend und die Verlangsamung erschreckend sein kann.
Mit dem Format „foRest – slow medicine“ lädt Martha Hincapié Charry die Teilnehmenden ein, das zu integrieren, was am Tag erlebt wird, und dabei zirkadiane Rhythmen zu verkörpern. Zirkadiane Rhythmen regulieren die im Laufe eines Tages auftretenden körperlichen und geistigen Veränderungen von Lebewesen.
„foRest – slow medicine“ ist offen für alle Interessierten, Menschen aus dem BIPoC-Kontext sind besonders willkommen. Die Teilnehmenden werden passiv einbezogen, erwünscht ist eine grundsätzliche Offenheit, barfuß zu sein und in Kontakt mit der Erde zu kommen.
#4 Moving Through Emergencies: Workshop with Thiago Granato
Im vierten Praxis- und Dialogformat der neuen Reihe „Encounters – Embodied Practices“ im Radialsystem lädt der brasilianische Choreograf Thiago Granato mit „Moving through Emergencies“ am frühen Morgen zu einer gemeinschaftlichen Körperpraxis ein, die von einem Ritual der indigenen Gemeinschaft der Txucarramãe in Brasilien inspiriert ist.
Thiago Granato hat in den letzten Jahren eine besondere Arbeitsmethodik entwickelt. Sie basiert auf einem körperlichen Training, das Kundalini Yoga, somatische Faszienstudien und eine Praxis für energetisches Körperbewusstsein, das sich auf ein Ritual der brasilianischen Txucarramãe bezieht, verbindet. Thiago Granato wird diese Körperpraxis mit den am Workshop Teilnehmenden teilen und sich im Gespräch mit ihnen der Frage nähern, wie eine performative Praxis identifiziert, verortet und aufrechterhalten werden kann.
„Moving through Emergencies“ richtet sich an Choreograf*innen, Tänzer*innen und Performancekünstler*innen, denen kollaborative Kreationsprozesse vertraut sind. Die Teilnehmenden sollten vor dem Workshop eine leichte Mahlzeit zu sich nehmen, da einige Atemübungen Druck auf den Bauch ausüben können.
#3 Vocal Practices: Praxis- und Dialogformat mit Peny Chan und Rully Shabara
Mitte November laden die Sänger*innen Peny Chan und Rully Shabara im Rahmen von „Encounters – Embodied Practices“ zu einem Praxis- und Dialogformat im Radialsystem ein, in dem selbstbewusstseinsstärkende Gesangstechniken erprobt werden, verbunden mit einem Einblick in die Tradition und Aktualität der Peking-Oper. Rully Shabara lädt zum gemeinsamen Singen im Chor ein, bei dem weniger die Musik als vielmehr die wertschätzende Arbeit mit der menschlichen Stimme im Vordergrund steht. Mit speziellen Gesangstechniken vermittelt Shabara eine Auseinandersetzung mit der eigenen Stimme, die sowohl das Selbstvertrauen stärkt als auch einen respektvollen Umgang miteinander fördert. „#3 Vocal Practices“ findet in Kooperation mit dem internationalen Mentoringprogramm „Forecast“ statt, das Chan und Shabara erstmals im Juli 2022 im Radialsystem zusammenbrachte.
Die aus Malaysia stammende Sängerin ergänzt das Praxisformat um eine kulturtheoretische Einführung in die wechselhafte Geschichte sowie Techniken und Präsentationsformen der Peking-Oper. Im Rahmen von „Forecast“ beschäftigt sie sich mit den traditionellen Gesangstechniken der Peking-Oper und ihrer Dekonstruktion in ein neues, experimentelles Gesangsgenre. Gemeinsam mit ihrem Mentor Shabara, der aus Indonesien stammt, adaptiert sie chinesische Opernlibretti für südostasiatische Sprachen und erweitert damit die Grenzen akzeptierter Klänge innerhalb der Peking-Oper.
Das Ergebnis der zehnmonatigen Zusammenarbeit mit ihrem Mentor Shabara, wird Chan kommendes Jahr beim „Forecast Festival 7“ vom 17.-18. März im Radialsystem präsentieren.
#2 Matria – Motherland: Workshop with Rocío Marano
Malambo ist der traditionelle Tanz der Gauchos in Argentinien: auf Rhythmen basierend und ohne Melodien oder Texte, eine Art Stepptanz, traditionell nur von Männern ausgeführt.
Im zweiten Workshop „Matria – Motherland“ der neuen Reihe „Encounters – Embodied Practices“ im Radialsystem lädt Rocío Marano dazu ein, sich mit dem Malambo auseinanderzusetzen. Die in Berlin lebende argentinische Tänzerin, Performerin und Videokünstlerin beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Forschung mit traditionellen argentinischen Tänzen. Dabei hinterfragt sie die ästhetischen Paradigmen des westlichen, zeitgenössischen Tanzes und Zuschreibungen wie die der Folklore. Die Entstehung des Malambo verknüpft sie zugleich mit der kolonialen und gewaltvollen Geschichte Argentiniens.
Der Workshop konzentriert sich auf die beiden rhythmischen Aspekte des Malambo: auf das geräuschvolle, stepptanzartige Stampfen mit den Füßen – „zapateos“ – einerseits, sowie auf die rhythmischen Bewegungen zur argentinischen Trommel Bombo Legüero andererseits. Neben praktisch-tänzerischen Aspekten des Workshops werden auch theoretische Fragestellungen aufgegriffen: Wie können die populären und traditionellen Klänge und Rhythmen des Malambo von einem folkloristischen Blick befreit und jenseits patriarchaler Konzepte verstanden werden? Begleitet wird Rocío Marano von den Tänzer*innen und Musiker*innen Ángela Muñoz, Gabriela Turano und Tatiana Heuman, zu Gast ist außerdem die Malambo-Lehrerin und Choreografin Gabriela Valdivia.
#1 Urban Practices Workshop mit Anja Jadryschnikova, Prince Ofori und Raphael Moussa Hillebrand
House dance, Breakin‘ und Krump: Urbane Tanzstile, die sich in ihren Bewegungssprachen stark voneinander unterscheiden, in deren Entstehungsgeschichte und Wirkungskraft es jedoch Gemeinsamkeiten gibt. Alle drei Stile haben ihren Ursprung in Gegenkulturen – counter cultures – als Selbstermächtigungsstrategien gegenüber einem System von patriarchaler, kapitalistischer und rassistischer Unterdrückung.
Anja Jadryschnikova, Prince MIK Ofori und Raphael Moussa Hillebrand sind jeweils Pionier*innen in ihrem Genre. Zum Auftakt der neuen Reihe „Encounters – Embodied Practices“ im Radialsystem laden die drei Künstler*innen zu einem Workshop ein, der Einblick in ihre jeweiligen Tanzpraktiken und verschiedene Ansätze des gemeinsamen Tanzens gibt. Ob in der Cypher (Kreis), in der Soul Train Line oder in einer interaktiven Videoinstallation, im Mittelpunkt stehen immer der Austausch und das Miteinander.
Der Workshop richtet sich an Menschen, die mit ihrem Körper arbeiten und sehen oder lernen möchten, wie die Konzepte von urbanem Tanz gelebt werden.