Ab 2023 erweitert das Radialsystem sein seit zwei Jahren existierendes Residenzprogramm „Body Time Space“ um eine einjährige „Artist in Residenz“ Position im Rahmen des Fellowship-Programms „Weltoffenes Berlin“. Sie richtet sich primär an Künstler*innen, deren Arbeit und Existenz in ihren Herkunftsländern bedroht ist. Dabei arbeitet das Radialsystem eng mit der Tanzfabrik Berlin zusammen.
Ziel des Fellowships ist es, Tanzschaffenden in den Studios des Radialsystems in einem freien und gleichzeitig geschützten Rahmen eine Vertiefung und Weiterentwicklung ihres bereits bestehenden künstlerischen Fokus zu ermöglichen. Der Begriff Residenz ist dabei geprägt von einer Offenheit gegenüber dem Ergebnis des künstlerischen Arbeitsprozesses und von dem Bewusstsein, dass Zeit und Raum essenziell sind für die künstlerische Entwicklung. Das Fellowship soll einerseits Möglichkeitsraum für vorkonzeptionelles Erproben künstlerischer Praxis sein und andererseits eine konkrete Auseinandersetzung mit einem Produktionsvorhaben zulassen. Während des Fellowships ist der*die Künstler*in in mehreren Impulszeiträumen dazu eingeladen, die eigene Arbeit mit internationalen Dialogpartner*innen aus anderen Wissensbereichen und/oder künstlerischen Disziplinen im transdisziplinären Austausch zu reflektieren. Die Arbeitsstände werden im Rahmen von Showings im Radialsystem präsentiert.
Im Rahmen des Fellowships „Weltoffenes Berlin“ setzt das Radialsystem seine enge Zusammenarbeit mit der Tanzfabrik Berlin fort. Gemeinsam präsentieren die Tanzfabrik Berlin und das Radialsystem seit 2019 in jedem Frühjahr zwei Künstler*innen einem breiten Publikum auf den Bühnen des Radialsystems – seit 2022 im Rahmen der Kooperation :LOVE:. Die Zusammenarbeit zielt darauf ab, die Arbeits- und Präsentationsbedingungen der Tanzschaffenden in Berlin über die jeweils eigenen Institutionsgrenzen hinweg zu verbessern. Neben der Sichtbarkeit der gemeinsamen Plattform entsteht auf diese Weise ein wichtiges Verknüpfungsmoment von lokalen und internationalen Künstler*innen und Szenen. Beide Institutionen unterstützen die Künstler*innen gleichermaßen mit Koproduktionsmitteln, Proberäumen und Öffentlichkeitsarbeit.
Das Residenzprogramm „Weltoffenes Berlin“ ist gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt.
2023: Choreografin und Performerin Elisabete Finger
Zusammensein bedeutet Verantwortung gegenüber anderen, Vielfalt bringt Komplexität und Kooperation erfordert Kreativität: Im Rahmen ihrer Residenz arbeitet Elisabete Finger an den Choreografien „RUN FAST, BITE HARD“ und „Curious Compounds“, dem ersten und zweiten Teil ihrer Forschung zu „Coupling Anatomies“ – eine Reihe von Arbeiten, die das Potential von Begegnungen zwischen sehr unterschiedlichen Akteur*innen untersuchen. Finger etabliert eine Praxis des Seins und Werdens mit anderen und erforscht Positionen, Dispositive und Mechanismen, die unterschiedliche Körper auf eine Weise miteinander verbinden, dass die Verhandlung der Einzelteile Kohärenz für das Ganze schafft. „Coupling Anatomies“ sind Erfahrungen rund um ein komplexes Miteinander, eine Erkundung anderer Ökologien, die gleichermaßen Vorteile wie Dilemmata bergen. Darüber hinaus bereitet die Künstlerin die Videoreihe „Histories of Gestures“ in Koproduktion mit dem Goethe-Instituts und des Sesc São Paulo vor.
Elisabete Finger ist im Laufe des Jahres 2023 gemeinsam mit assoziierten Künstler*innen im Rahmen von mehreren Studiophasen im Radialsystem präsent. Am 21. Oktober präsentiert die Künstlerin in einem Showing ihren Arbeitsstand. Ergänzend stellt die Tanzfabrik Elisabete Finger eine zweiwöchige Residenz in ihren Studios zur Verfügung.
Residenz: Elisabete Finger
Choreografische Assistenz: Sandro Amaral
„RUN FAST, BITE HARD“
Regie: Elisabete Finger und Manuela Eichner
Choreografie und Performance: Elisabete Finger
Assemblage und Collagen: Manuela Eichner
Choreografische Assistenz: Sandro Amaral
Soundrecherche: Carla Boregas
Lichtrecherche: Mirella Brandi
Kostümrecherche: Thelma Bonavita
Künstlerische Beratung: Chiara Gallerani, Sigal Zouk und Claudia Hill
„Curious Compounds“
Konzept und Regie: Elisabete Finger
Kreation und Performance: Danielli Mendes and Mariza Virgolino
Im Auftrag des French Institute – São Paulo
Fotos: Vicente Otávio und Debby Gram
Elisabete Finger ist eine brasilianische Choreografin und Performerin und lebt in Berlin. Sie untersucht die Materialität und Anatomie von Körpern und Dingen und legt Texturen, Dichten, Formen und Flüssigkeiten im Spannungsfeld zwischen Freude und Irritation frei. Durch die Kollision verschiedener Materialien experimentiert Finger mit Empfindungen, Erotik und sozialen oder kulturellen Erwartungen. Sie studierte Jura / Public Politics in Brasilien, Tanz und Choreografie an verschiedenen Orten wie dem Essais-Programm am CNDC d'Angers (Frankreich) und dem MA SODA (UdK/HZT, Berlin). 2021/2022 war Finger Stipendiatin der Martin-Roth-Initiative.
Fingers persönliche Geschichte steht exemplarisch für die politische Diffamierung und Instrumentalisierung zeitgenössischer Kunstformen und ihrer Akteur*innen durch eine global erstarkende radikale Rechte – in diesem spezifischen Fall durch die Regierung Jair Bolsonaros in Brasilien. Es ist kein Zufall, dass gerade jene Kunstformen, die sich kritisch mit dem Körper und seiner sozialen und politischen Verfasstheit, seiner Beziehung zur Umwelt und zu anderen Körpern auseinandersetzen, im Zentrum der politischen Repression stehen. Das emanzipatorische und transformative Potenzial, das von diesen künstlerischen Ansätzen ausgeht, entwickelt auch jenseits der Kunst eine gesellschaftliche Wirkung und stellt daher im besonderen Maße für undemokratische Denkweisen eine Bedrohung dar.